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Deshalb ist der Giro d‘Italia das härteste Radrennen der Welt – Radsportprofi Alex Howes berichtet von seinen Erfahrungen
Wir sprechen mit Alex über den bevorstehenden Giro d‘Italia, was ihn zu einer noch größeren Herausforderung macht als die Tour de France und welche WHOOP Daten wir während des Giro 2022 erwarten dürfen.
Der 34-jährige Radprofi Alex Howes fährt für den Rennstall EF Education First – Easypost und hat in seiner Karriere alle großen Radrennen der Welt bestritten, darunter die drei großen Rundfahrten Tour de France, Giro d‘Italia und Vuelta a España. WHOOP Radsportguru Jeremy Powers, vierfacher US-Champion im Querfeldeinrennen, sprach mit Alex über den bevorstehenden Giro d‘Italia und darüber, was ihn zum wohl schwierigsten Radrennen der Welt macht. Jeremy Powers: Vielleicht eine Info vorab für alle, die den Radsport nicht so aktiv verfolgen: Ein Rennen zu gewinnen ist wahnsinnig schwierig. Manche Fahrer gewinnen in ihrer gesamten Profikarriere keines. Der Konkurrenzdruck im Profiradsport ist aberwitzig hoch, und nicht umsonst sagt man, dass Rennradfahren der körperlich anspruchsvollste Sport auf der ganzen Welt ist. Alex, kannst du das bestätigen? Alex Howes: Oh ja, das ist absolut richtig. Die Chancen, ein Radrennen zu gewinnen, sind verschwindend gering. Bei einem Fußballspiel gibt es zwei Teams, da liegen deine Siegchancen, zumindest auf dem Papier, bei 50:50. Bei einem Radrennen hingegen stehen deine Chancen vielleicht 1:180. Die Wahrscheinlichkeit spricht einfach gegen dich. Es geht vor allem darum, durchzuhalten. Ich kenne viele Fahrer, die noch nie ein Rennen gewonnen haben.
WAS UNTERSCHEIDET DEN GIRO D’ITALIA VON DER TOUR DE FRANCE UND DER VUELTA?
JP: Du bist schon sehr lange im Radsport aktiv, wahrscheinlich mehr als zwei Jahrzehnte. Du fährst konstant auf höchstem Niveau und hast einige Rennen und mehrere Etappen bei großen Touren gewonnen. Jetzt steht die erste große Rundfahrt des Jahres, der Giro d'Italia, kurz bevor. Du kennst sie alle, den Giro, die Tour de France und die Vuelta a España ... wie unterscheiden sie sich?
ALEX BEHÄLT AUF DER COPPI E BARTALI 2022 MIT WHOOP SEINE GESUNDHEITSDATEN IM BLICK.
AH: Also, die Tour ist die Tour, eine große Maschinerie, ein Riesenzirkus. Ziemlich stressig wegen der ganzen Medien und so. Die ganze Welt blickt auf dich und sieht alles, was du machst – jede starke Aktion, aber auch jeden Fehler. Üblicherweise ist es auf der Tour auch immer ziemlich heiß, genau wie bei der Vuelta. Der Giro hat eine glanzvolle Geschichte und wird deswegen manchmal ziemlich verklärt. Aber in Wahrheit ist er einfach ein bockhartes Rennen, bei dem weit mehr zählt als die reinen Watt pro Kilogramm. Es ist oft ganz schön nass und kalt – schließlich führt der Giro im Frühjahr durch die Dolomiten. Dein WHOOP zeigt extreme Belastungswerte an. Bei anderen Rennen liegt die Erholung der Fahrer dann immer noch im hohen gelben oder niedrigen grünen Bereich, aber sei mal gut erholt, wenn du 9 Stunden lang unterkühlt im Sattel sitzt!
GIRO D’ITALIA VS. TOUR DE FRANCE UND DIE FRAGE: WARUM IST DER GIRO SO ANSTRENGEND?
JP: Ja, der Giro ist einfach brutal anstrengend ... die Transfers, die langen Etappen, der Regen in den Bergen. Was unterscheidet ihn sonst noch von der Tour de France? AH: Die Tour ist sehr kommerziell, eine große Bühne, auf der viele Variablen wegfallen. Der Giro ist in vieler Hinsicht ein Radrennen der alten Schule, mit langen Etappen, großen Transfers und einfach mehr Chaos und Unberechenbarkeit. JP: Man hört immer, dass auf der Tour einfach wahnsinnig viel auf dem Spiel steht. Die erste Woche ist wild und richtig intensiv, weil jeder im gelben Trikot fahren möchte. Und es ist echt gefährlich. Das haben wir gerade letztes Jahr bei den vielen verrückten Unfällen wieder gesehen. Ist der Giro da anders? AH: Am Anfang der Tour gibt es viele Flachetappen, auf denen die Seitenwinde den Fahrern ganz schön zu schaffen machen und Hektik ins Rennen bringen. Beim Giro ist das Gegenstück zum maillot jaune die maglia rosa, das rosa Trikot, mit Sicherheit das hübscheste Trikot im Radrennsport, das sich auch jeder sichern möchte. Dann gibt es anfangs immer diese kurzen, gemeinen Kletterpassagen, die 95 % der Fahrer völlig kalt erwischen. Die einzigen, die wissen, was sie tun, sind wahrscheinlich die paar Fahrer, die in den Bergdörfern wohnen, in denen die Etappen enden. Einige der Straßen sind kaum eine Armspanne breit – und beim Giro schleusen wir da plötzlich 180 Fahrer durch. In der ersten Woche der Tour weißt du, dass es hart wird, wegen des Windes und der hohen Belastung. Beim Giro weißt du ebenso, dass dich etwas Schlimmes erwartet ... nur weißt du nicht was. Ganz egal, wie intensiv du dich mit der Strecke befasst und wie oft du sie mit Google Streetview abfährst. Manche dieser Straßen sind ja so eng, dass nicht mal die Begleitfahrzeuge der Teams durchkommen.
DAS FELD DES GIRO D’ITALIA 2021 AUF EINER ENGEN STRASSE.
JP: Auf dem Giro gibt es dieses Jahr wegen der irren Transfers drei Ruhetage. Das Rennen beginnt in Budapest und führt über drei Etappen durch Ungarn, danach geht es mit dem Flugzeug nach Sizilien im Süden Italiens. Wie macht sich das während des Rennens bemerkbar? AH: Ja, als ich den Giro gefahren bin, hatten wir auch drei Transfers, per Flugzeug oder Fähre ... oder vielleicht sogar beides. Du sitzt auf dem Rollfeld und wartest auf den Abflug und es hat gefühlt 50 Grad. Allen läuft der Schweiß herunter und die Jungs, die am nächsten Tag gut fahren, sind die, die vier Flaschen Wasser dabei haben statt nur zwei.
DREI WOCHEN IM SATTEL
JP: Wie ist die letzte Woche einer großen Rundfahrt? Du fährst schon seit 14 Tagen Etappe um Etappe und hast noch sieben Tage vor dir. Welche Mentalität braucht es, um über die Ziellinie zu kommen? AH: Komischerweise geht es hier in zwei unterschiedliche Richtungen. Zum einen kann sich der menschliche Organismus an fast alles anpassen. Wenn du an einer Grand Tour teilnimmst, kommt irgendwann dieser eine Punkt, an dem du meinst, du könntest ewig weiterfahren: „OK, das mach ich jetzt für den Rest meines Lebens. Kein Problem!“. Wenn du aber merkst, dass du Fieber hast und dich richtig mies fühlst, musst du jeden Tag mit dir ringen, um die Etappe zu überstehen und das Rennen zu Ende zu fahren. JP: Und wie fühlt man sich danach? Lässt man sich erstmal zuhause ins Bett fallen und will nur seine Ruhe? Oder kannst du aus so einem Rennen Energie ziehen? AH: In den ersten Tagen nach dem Rennen wachst du vielleicht sogar zur gewohnten Zeit auf und denkst: „Okay, los geht‘s“. Aber wenn du dir dann deinen Kaffee gemacht hast und dich hinsetzt, kommst du nicht mehr vom Sofa hoch. Nicht nur wegen der körperlichen Strapazen, sondern auch wegen der mentalen Anstrengung. Denn du hast während des Rennes einfach null Zeit zum Abschalten. Aber natürlich nimmst du aus so einem Rennen auch eine unheimliche Fitness mit. In den Wochen und Monaten danach fühlt man sich einerseits total ausgelaugt, alles tut irgendwie weh und man ist ständig müde. Andererseits steigst du dann auf dein Fahrrad und fährst plötzlich die besten Zeiten deines Lebens. Also von beidem etwas.
BELASTUNG, HERZFREQUENZ UND WEITERE WHOOP DATEN WÄHREND DES GIRO
JP: Letzte Frage: Welche WHOOP Daten können wir von den Fahrern dieses Jahr beim Giro erwarten? AH: Viele Leute werden es kaum fassen können, wenn einige Fahrer 15 Tage in Folge eine Belastung um die 20,7 aufweisen. Aber wirklich spannend wird es bei den Erholungswerten. Im Allgemeinen sind diese Fahrer nämlich so fit, dass sie sich trotz all der Strapazen immer noch erholen können. Gegen Ende des Rennens sinkt die maximale Herzfrequenz bei fast allen um etwa 10 Schläge pro Minute. Man kommt einfach nicht mehr höher. Interessant sind auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Fahrern: Manche haben den ganzen Tag über eine Herzfrequenz von 190, andere wiederum liegen bei 140 – und das hat nichts mit ihrer Fitness zu tun, sondern ist einfach physiologisch bedingt. Bildnachweis: Jordan Clark Haggard, Getty Images